Eine Episode aus einer Zeit, in der es noch kein Internet gab, keine Rechtschreibreform, keinen kränkelnden Euro, dafür aber Volkspolizei, Intershops und eine starke D-Mark.
November 1987: Die deutsche Teilung ist zementiert, zwei deutsche Staaten sind unangezweifelte Realität. Die Menschen beider Staaten haben sich an diese Realität gewöhnt, und sie sehen auch in der Perversität des Eisernen Vorhangs mit seinem unüberwindlichen Stahlgitterzaun, den Minenfeldern, den Hundelaufanlagen nichts Außergewöhnliches mehr. Man hat sich abgefunden damit, daß ein fünf Kilometer breiter Sperrstreifen das Grenzgebiet der DDR abriegelt, für die Bürger beider deutscher Staaten ebenso unzugänglich wie der „antifaschistische Schutzwall“ selbst. Die älteren Menschen, die sich einst vehement entrüstet hatten: „Dreigeteilt niemals!“, haben längst achselzuckend resigniert. Und für die Jüngeren, ob „Zonis“ oder „Bundis“, ist ein anderer als der gegebene Zustand überhaupt nicht vorstellbar.
Und reist der Westdeutsche dann einmal in die DDR, so reist er anders, als er nach Italien oder Holland reist. Selbst ein Amerikabesuch oder eine Weltreise sind nicht vergleichbar mit einem Besuch „hinter dem Eisernen Vorhang“. Im unbekannten Terrain ist mit Überraschungen zu rechnen, die weniger kalkulierbar sind, als bei einer Safari.
Von einer solchen unkalkulierbaren Reise dreier Wessis erzählt Gerd Kankes Buch. Es beschreibt eine Tagesfahrt im November 1987, die den Autor und seine beiden Freunde „innerhalb einer knappen Stunde aus der Gegenwart in eine sechzig Jahre zurückliegende Epoche“ führt. Es erzählt von den „Grenzerfahrungen“ des Trios bei der Abfertigung, von der holprigen, achsbrecherischen Fahrt durch den Thüringer Wald und von den teils amüsanten, teils nachdenklichen Begegnungen mit Menschen aus dem Grenzgebiet.
Dabei ist Kanke nicht der arrogante Wessi, der über alles - nicht nur über den Braunkohlegestank - die Nase rümpft. „Der Sozialismus wird siegen“ leuchtet von einem roten Transparent, das vor einer maroden Hauswand hängt. Für den Autor ist es der Ausdruck einer Tragödie. Dieses System erscheint Kanke zu freudlos, zu verkrampft, zu restriktiv, als daß er ihm mit Sympathie begegnet wäre. Die ist den Menschen vorbehalten, die mit patenter Gelassenheit verstehen, sich mit den Widrigkeiten des Alltags zu arrangieren.
„Das können sie besser als bei uns: Witze erzählen und alles durch den Kakao ziehen“, stellt der Autor fest, als sie zwei DDR-Bürgern mit Hilfe eines Handbuchs und einer Flasche Schnaps bei der Reparatur ihres Trabis assistieren.
Seine Zuhörer fühlten sich offensichtlich glänzend unterhalten. Kichernd erinnerten sie sich an eigene Erlebnisse, zum Beispiel daran, als „Bittsteller“ im DDR-Restaurant darauf zu warten, daß man „plaziert“ wird.
Marburger Neue Zeitung anläßlich einer Lesung
Eigentlicher Anlaß dieser Reise aber ist die Suche nach Friedrich Schillers Zufluchtsort Bauerbach, der - Kein Ortsschild. Nirgends - im hermetisch abgeriegelten Sperrgebiet liegt. Der Versuch, diesen Ort zu erreichen, ist zwar zum Scheitern verurteilt, doch rückt die Person Friedrich Schillers fast unmerklich immer mehr in den Mittelpunkt der Erzählung. Realität vermischt sich mit Traumsequenzen, bis schließlich der tote Dichter eine fast greifbare Gestalt annimmt...
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