Gerd Kanke

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Friedrich Schiller im Sperrgebiet

Reisende sind auch wir. Der Bach auf der rechten Seite ist die Werra, und unser VW-Bus rumpelt jetzt nach Breitungen hinein. Mit haarsträubend widerlichem Atem - er hat zu Bratwurst und Bier wohl jede Menge Zwiebeln vertilgt - sagt Freddy die Fahrtrichtung an. Ich kurbele etwas das Seitenfenster herunter, aber da kommen die Braunkohle- und Minoldämpfe doppelt so stark herein. Fenster wieder hoch, dann schon lieber Zwiebeln und Bier!
 
Draußen wieder mürbe, bröselige Fassaden, eine löcherige Seitenstraße ohne Trottoir, ab und an ein rotes Fähnchen, auch Schwarz-Rot-Gold mit Hammer und Zirkel, vom achtunddreißigsten Geburtstag der Republik übriggeblieben, vergessen, naß und schlaff an den düsteren, morschen Fassaden herabhängend. Wenn ein Staat schon Geburtstag hat... Und dann noch im Herbst... Lächerlich!
 
Wieder diese runden Betonmasten mit den unsäglichen Peitschenlampen. Alles grau in grau. Holzhaufen an dem einen Straßenrand, am anderen wird Braunkohle geschaufelt, Samstagnachmittag, ansonsten völlig tote Hose. Ein abgestelltes Motorrad am Straßenrand. Gasthof zur Zentrale. Alles völlig vergammelt. „Stop jetzt!“, ruft Freddy. Ich halte vor einem großen, verschieferten Haus, dessen schadhaftes Dach mit allerlei verschiedenfarbigen und -förmigen Ziegeln bedeckt ist und über dessen dickem, auseinanderklaffenden Schornstein sich ein gewaltiger Rauchpilz zusammenballt, tiefschwarze Schwaden zuerst, wie der Hölle entwichen, dann heller und heller werdend, seinen infernalischen Gestank in die Gegend pestend. „Scheiß Braunkohle!“, schimpft Freddy, „die macht uns alles kaputt. Die Heizungen, die Häuser und die Menschen! So, da wären wir.“
 
Breitungen scheint jedenfalls keiner von den Orten zu sein, in denen der Sozialismus den Menschen die Laune für immer und ewig versaut hat. Grinsend schauen wir auf ein riesiges, schwarzumrandetes Schild: „Getränke-Stützpunkt“. Umrahmt von roten Wink-Elementen, und darunter die Parole schwarz auf rotem Tuch: „Die Planerfüllung ist unser erklärtes Ziel!“
 
Manchmal könnte man fast glauben, die machen das absichtlich. Planerfüllung im Getränkestützpunkt! Wenn das Schiller noch erlebt hätte! Aber der war ja wohl auch ein Genußmensch, wenn man es wegen der faulenden Äpfel in der Schreibtischschublade auch nie so recht glauben mag.
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08 2010
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