Gerd Kanke

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Vogelfreunde

Die Drei Frauen im Leben des Mario B.

Spätsommerabend. Aufatmen nach der Hitze des Tages. Ein Glas Rotwein auf dem Terrassentisch, ein älterer Mann in Reichweite des Weins ausruhend in einem Korbsessel. Der Mond steigt über den Bergkamm – es ist Vollmond heute, und das ist ein Fest für den Mann, der „mondnarrisch“ ist. Er sitzt im Sessel, trinkt von seinem Wein, schaut den dicken, runden Gesellen am Himmel an, dann wieder blickt er in ein Buch, das aufgeschlagen in seinem Schoß liegt. Wir Zuschauer dieser Wilhelm-Raabe-Idylle erkennen im blassen Licht zwei leere Seiten, auf deren rechter eine Büroklammer zu sehen ist, nicht am Rand aufgesteckt, sondern mitten auf dem Blatt offensichtlich festgeklebt. Der Mann schaut abwechselnd in den Mond und dann wieder hinunter auf die aufgeklebte Büroklammer. Und dann vernehmen wir seine leise, gebrochene Stimme: „Ach, mein Elfchen!“

Höchste Zeit, den Mann allein zu lassen in seiner Vollmond-Idylle! Machen wir eine Reise um vierzig Jahre zurück in das Großraumbüro eines expandierenden Konzerns!

Und da vorn am Schreibtisch, vor einem Karteikasten, da sitzt er, unser Mond- und Büroklammeranbeter. Ja, er sieht jetzt wesentlich jünger aus, und er lässt seine Blicke auch hier hin- und her schweifen – zwischen seinem Karteikasten und dem Schreibtisch zwei Reihen links vor ihm. An diesem Schreibtisch sitzt ein zauberhaftes Wesen, eine „Sachbearbeiterin“ - völlig unpassender Name für so ein elfengleiches Wesen. Und so nennt er sie auch für sich, „mein Elfchen“, wenn sein Blick mal wieder von den Karteikarten hinübergleitet zu ihr. Conny Bollmann heißt sie – das klingt noch schlimmer als „Sachbearbeiterin“, aber für ihren Namen kann sie ja nichts. Und außerdem : „Conny“, na – da ist doch die süße Cornelia Froboess, deren Filme er so gerne anschaut im Kino. Wie hat er sie geliebt in der Rolle als Claire in der Tucholsky-Verfilmung von „Rheinsberg“! Und wie eifersüchtig war er auf den tollen Rock'n-Roller Peter Kraus, wenn er sie in „Wenn die Conny mit dem Peter“ erlebte, wenn er ihre schöne Stimme hörte, einfach hin und weg war er. Also, „Conny“ war schon in Ordnung für diese süße Sachbearbeiterin... Und ganz verrückt nach ihr war er geworden, als eine Kollegin ihm zugeflüstert hatte, was „die Bollmann“ über ihn erzählte: „Sagen sie dem mal nicht, dass er schöne Augen hat, sonst bildet der sich noch was ein!“ Oh, jetzt war es ganz um ihn geschehen, und seine Blicke weilten jetzt öfter auf seinem Elfchen, als auf seiner Arbeit. Und eines Tages stand das Mädchen auf und kam zu ihm herüber, legte eine Büroklammer auf seinen Schreibtisch und sagte fröhlich: „Da, die schenke ich Ihnen!“ Unser junger Mann hatte sich bei ihrem Herannahen über seine Karteikarten geduckt. Und in seiner witzigen Art, für die er überall bekannt war, sprang er jetzt auf, verbeugte sich tief und sagte:“Herzlichen Dank für diese großzügige Gabe! Ich werde sie stets zu ihrem Andenken in Ehren halten!“ Verbeugte sich nochmals tief, worauf das Elfchen kichernd davon flatterte.

Ja, das war's dann auch schon. Auch diese Conny fand ihren Peter, den leitenden Geschäftsführer Dr. Peter Mollenkopf. In den folgenden Jahren dann näherte sich Frau Cornelia Bollmann-Mollenkopf körperförmlich immer mehr ihrem Namen an, aber das bekam unser junger Mann nicht mit. Er hatte an jenem Tag ganz glücklich die Büroklammer in der linken Tasche seines Oberhemdes verstaut – genau über dem Herzen – und hatte sie daheim in sein altes Poesiealbum geklebt. Nicht mit Tesafilm – nein, das hätte ja die Aura zwischen ihm und der Klammer gestört – sondern mit UHU-Alleskleber.

Und da er, ähnlich wie Bertolt Brecht seine Marie A., das Elfchen niemals wiedersah, blieb es ihm erhalten in seiner bezaubernden Erscheinung bis zum heutigen Abend, an dem er bei Vollmond und Rotwein, sein aufgeschlagenes Album auf den Knien, die Büroklammer anblickt und dabei immer wieder seufzt: „Ach, mein Elfchen!“

Marios Trauer um das verlorene Elfchen war damals so groß gewesen, dass er sich in eine andere Stadt hatte versetzen lassen. Und hier lernte er, mitten in seinem Liebesleid, die zweite Frau seines Lebens kennen und lieben. Sie bediente ihn manchmal in der Bäckerei, von der er seine Frühstücksbrötchen holte. Er war der liebreizenden Gestalt dieses Mädchens vom ersten Augenblick an verfallen, erinnerte sie ihn doch lebhaft an die entzückende Kindfrau des Neuen Deutschen Films, an Helga Anders. Nun, nach einer Sachbearbeiterin, war er in eine Backwaren-Fachverkäuferin verknallt. Er nannte sie bei sich „Meine schöne Bäckerin“ und sang immer wieder im Stillen aus Schuberts „Schöner Müllerin“: 'und wenn sich die Liebe dem Schmerz entringt, / Ein Sternlein, ein neues am Himmel erblinkt, / Da springen drei Rosen, halb rot und halb weiß, / Die welken nicht wieder, aus Dornenreis.'

Die schöne Bäckerin strahlte ihm jedes mal so fröhlich entgegen, dass sein ganzer langer Arbeitstag übersonnt war. Einmal war sie gerade damit beschäftigt, frisch geliefertes Gebäck im gläsernen Tresen auszulegen. „Die Hörnchen müssen lachen!“, erklärte sie ihm ernsthaft. Als er sie fragend anschaute, hielt sie ihm, entrüstet ob seines Unverstandes, eines der Hörnchen mit ihrer silbernen Zange entgegen – und wirklich: sie hätte die Erfinderin des später so häufig auftauchenden Smileys sein können – das Hörnchen lachte! Zum Gegenbeweis drehte sie es nun mit ihrer Silberzange um: „So... so sind sie traurig!“

Und Mario kaufte sogleich dieses Demonstrationsobjekt als Andenken an die denkwürdige Szene mit seiner schönen Bäckerin. Doch im Gegensatz zu seinen Frühstücksbrötchen aß er es nicht auf, sondern ließ es trocknen zu einer haltbaren Mumie. In sein Poesiealbum konnte er es ja nicht kleben, sondern er bewahrte es in einer bunten Marzipanschachtel auf. An besagten Vollmondnächten mit Rotwein lag das Hörnchen dann neben seinem Album auf dem Terrassentisch und lachte ihn an. „Ach, meine schöne Bäckerin...“, seufzte der langsam alternde Mario dann...

Auch mit der zweiten Frau in seinem Leben kam es zu keiner weiteren Annäherung. Fräulein Fischer, so hieß das schöne Mädchen damals, denn da gab es noch „Fräuleins“, Fräulein Fischer mit dem höchst unpassenden Namen für eine Backwaren-Fachverkäuferin, hatte geangelt, und zwar den Juniorchef einer Wurstfabrik. „Als Verlobte grüßen...“, so stand es damals in der Zeitungsanzeige. Den Namen des Verlobten hatte Mario verdrängt, und die schöne Bäckerin hatte er niemals wieder gesehen. An Vollmondabenden ließ er das Hörnchen lachen und sang leise vor sich hin: „Gute Nacht, gute Nacht, / Bis alles wacht, / Schlaf aus deine Freude, schlaf aus dein Leid. / Der Vollmond steigt, / Der Nebel weicht, / Und der Himmel da droben, wie ist er so weit.“

Und die dritte Frau im Leben des Mario B.? Machen wir eine Reise in die Gegenwart, schauen wir ein wenig seiner Vollmond-Idylle auf der Terrasse zu: Das Hörnchen hat gerade zum Rotwein gelächelt, das leise Schubert-Lied ist verklungen. Und nach einem weiteren Schluck Rotwein schlägt der ältere Mann jetzt sein Poesiealbum auf. Die Seite mit der Heftklammer glänzt matt im Mondlicht. Er streicht zärtlich über das Papier und über die Klammer und will grade seufzen: „Ach, Elf...“, da erscheint eine drohende Gestalt in der Terrassentür, die mit wütender Stimmer zetert: „Da sitzt dieser Herr mal wieder im Mondlicht und glotzt so romantisch! Du kannst doch nicht einfach hier sitzen! Morgen ist die Steuererklärung fällig, und der Wasserhahn im Badezimmer tropft noch immer!“

Der Seufzer von Mario B. vervollständigt sich: „Ach, Elfriede!“

So, das ist also die dritte Frau in seinem Leben. Jetzt kennen wir sie alle. Nun aber schleunigst fort von hier, weit weg, immer den schönen Träumen hinterher!

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08 2010
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